„plaudern aus dem nähkästchen“ – zeichnungen und objekte
Einführungsrede von Katharina Dück
Kahnweilerhaus Rockenhausen, 5. November 2017
Wir alle haben ihn – jenen berühmten roten Faden, der sich durch unsere Gedanken, Gefühle, ja unser ganzes Leben zieht. Dieser rote Faden kann ein Motiv oder ein Symbol sein, das uns immer wieder scheinbar zufällig begegnet und uns den Weg zu weisen scheint. Oder uns Kraft gibt, schwere Zeiten durchzustehen. Oder uns in unserem Handeln zu bestätigen scheint. Dieser rote Faden kann auch ein Thema sein, das uns immer wieder in unserem Leben beschäftigt und zu dem wir immer wieder zurückzukehren scheinen. Und bei manch einem handelt es sich nicht um einen roten Faden, sondern um mehrere. Und manche dieser roten Fäden sind gar nicht rot, sondern bordeaux, magenta, pink, orange oder gar blau, gelb, grün. Sie alle stehen für unzählige Gedanken, Gefühle, Symbole, Motive, Momente und Begegnungen. Sie verbinden, ja verflechten, sich schließlich zu kleinen Verzierungen. Für sich sind die Verzierungen schwer zugänglich, aber wenn man sie mit etwas zeitlichem oder räumlichem Abstand betrachtet, sieht man, dass aus mehreren kleinen Verzierungen sich irgendwann Muster ergeben haben. Wenn man diese dann im Zusammenhang betrachtet, erschließen sich zuweilen fantastische Dinge, z.B., dass all die Fäden, Verzierungen und Muster sich schließlich zu einem Teppich verwoben haben, den wir im Ganzen unser Leben nennen. So gesehen sind wir alle nichts anderes als von uns und zuweilen mithilfe von anderen geknüpfte Teppiche in unterschiedlichen Stadien. Nur manchmal – und das ist die Krux an der Sache – knüpfen sich diese Fäden auch ganz unmerklich, während wir mit anderen Dingen oder Verzierungen beschäftigt sind. Wir wundern uns womöglich später erst über die entstandenen Muster und versuchen dann die Muster zu verfolgen und sie vielleicht zu ergründen. Nur gelingt uns das nicht immer oder nur unter größter Mühe. Außerdem bleibt immer die Frage danach, wie man das macht? Knüpft man die Fäden einfach wieder auf oder holt man gleich eine Schere und versucht, den Teppich aufzuschneiden? Bekommt man das alte Muster wieder genauso hin? Will man das überhaupt?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben heute das Glück, dass wir mithilfe von Natascha Brändlis wunderbarer Werkschau beobachten können, wie man sowas macht – dieses Aufknoten und Zuknoten – wie sie sowas macht und es schafft, ihre Fäden zu entwinden, Knoten zu verfolgen, sie zu lösen und weiterzuverfolgen, bis die Fäden die Künstlerin selbst und uns mit ihr zu ihren Ursprüngen, ihrem Inneren und Innersten bringen und in der Bewusstwerdung von Schleifen und Schlaufen schließlich Wesentliches offenbaren. Auch hinter Natascha Brändlis Teppich verbirgt sich eine Lebensgeschichte, worin sich wiederum unzählige Geschichten verbergen, die sich wiederum auf einzelne Fäden zurückführen lassen, weil sie sich irgendwann einmal miteinander verwoben haben.
Eine dieser Geschichten – und vielleicht plaudere ich hier etwas aus dem Nähkästchen – führt uns in Natascha Brändlis Kindheit und zu ihrer Großmutter, bei der sie als Kind wohnte und der sie beim Stricken und Häkeln stundenlang fasziniert zusah, zusehen konnte. Zwar habe sie dabei das stricken und häkeln niemals gelernt, aber die geduld und durchaus die handwerkliche Könnerschaft der inneren und äußeren Wiederholungen rhythmischen Arbeitens und die damit verbundene Wirkung des Entschleunigens und Entrückens. Die künstlerische Umsetzung dieser Geschichte, welche sie über die Phasen der Bühnenbildnerei am Theater und dem Modedesign-Studium hin zur freien Kunst führte, können wir heute in ihren sogenannten strickarbeiten sehen: Es sind Arbeiten, die aus der innovativen Technik des 3D-Drucks abgeleitet sind. Natascha Brändli setzt diese Technik in ihrer freien Arbeit ein und benutzt sie analog, indem sie mechanische Funktionen eines 3D-Druckers durch rein motorische Bewegungen ihrer Hände ersetzt. Ihr Garn ist das PLA-Filament, ihre Technik die 3D-Zeichnung durch die Führung ihrer Hände – nicht unähnlich der einstigen Händeführung ihrer Großmutter beim Stricken –, nur dass Natascha Brändli das geschmolzene Filament endgültig in Position bringt, in Schleifen und Schlaufen legt, Verzierungen schafft, die sich nicht mehr verändern lassen, so dass sie im wahrsten sowie doppelten Sinne des Wortes an ihrer eigenen Geschichte, ihrer Werk- und Seinsgeschichte, webt.
Dadurch kommt der Linie, die in Natascha Brändlis Werk von jeher als reduzierte und gleichzeitig stärkste, nämlich einer Beziehungslinie zwischen Objekten oder Objekt und Subjekt eine gewichtige Rolle spielte, eine noch größere Bedeutung zu. Man könnte auch sagen, dass die Linie als Thema ein weiterer roter Faden ist, der eine Geschichte ihres Teppichs erzählt, die noch nicht zu Ende erzählt ist, sondern jetzt aus der zweidimensionalen Welt in die dreidimensionale kommend ein neues Stadium erreicht: Die Linie ist nicht mehr „bloße“ Zeichenlinie, die man theoretisch wieder ausradieren oder mit einem zweiten Blatt bedecken und dadurch Verbindungen zwischen Objekten oder eben Objekt und Subjekt wieder lösen könnte. Natascha Brändlis Zeichenlinie nimmt nun Platz und Raum ein, erzählt die alte Geschichte der Linie neu: Die Bewegung der Verknüpfung herstellenden und webenden Hand bleibt endgültig in ihrer Form und lässt Erinnerungssprache nicht nur sichtbar, sondern auch greifbar werden. Ihre Linien schreibt sie in unseren gemeinsamen Raum hinein. Dabei gewinnen diese Linien nicht nur Stofflichkeit im Sinne einer Materialität, sondern auch Stofflichkeit im Sinne von Material und damit kommt der Linie mit ihrer räumlichen Mehrdimensionalität auch eine inhaltliche Mehrdimensionalität zu, die uns auf vielen verschiedenen Ebenen anspricht: Jene strickarbeiten am Eingang ähneln nicht lediglich Strickmustern, weil sie gewoben sind. Sondern, gerade weil sie in den Raum hinein gewoben sind, erinnern sie uns auch an Räume, an Landschaften und Felder. Die strickarbeiten stricken in uns weiter, weil sie vieldeutig sind und unsere Gedanken in ihre Formen hineinfädeln und anregen.
Am eindrücklichsten finden wir diese Gedanken gebündelt vielleicht in der jüngst durch den Albert-Haueisen-Kunstpreis prämierten Hauptarbeit N° 46 (die Arbeit kennen Sie spätestens von der Einladungskarte): Hierin hat Natascha Brändlis Linie zum Raum, Sinnlichkeit zum Sinn, Material zum Muster und damit gleichfalls zwei ihrer Kunstfertigkeiten auf einzigartige Weise miteinander verbunden, nämlich die Zeichnung und die Plastik. Und genau diese dimensionale Überschreitung zeichnerischen Webens ist es, die so viele Schlaufen um unsere Assoziationen von Material und Materialität legt: Ist es die Anspielung eines jener Röcke von Degasʼ Balletttänzerinnen? Ist es eine Abendhandtasche? Ein Hut oder gar ein Schnurrbart? Linie wird zur Schlaufe, Schlaufe zur Verzierung, Verzierung zum Muster, das in seiner Gesamtheit zum Material wird oder eine Materialität erschafft und uns die Bedeutung von Konkretem und Abstraktem durch Zusammenfall beider vor Augen führt: N° 46 kann ein Stück Teppich sein, aber es kann auch ein Stück Lebensteppich im übertragenen Sinne meinen. Es kommt ganz darauf an, welche Geschichte man erzählen möchte und welchen Faden man dabei aufnehmen will oder kann.
Interessant werden die Geschichten vor allem dort, wo sie als Faden eine Schlaufe legen und damit einen Kreis, oder vielmehr ein Oval symbolisieren. Dieses Symbol begegnet Ihnen vielfach in Natascha Brändlis Werk: einzeln, in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung, oder in Gruppen oder gar Trauben stehenden – fast an Massenhaltung gemahnende – Ovalen, die beziehungsreich ihr Dasein kommunizieren und uns schließlich an uns erinnern: Denn am Ende steht das Oval auch für uns, den Menschen, auf sein Wesentliches reduziert, seinen Solar plexus, der von einem Punkt startend sich linear fortbewegt und sich allein damit schon in seine Umgebung einschreibt. Um aber eine Beziehung herzustellen, in eine ovale Schlaufe sich legt, indem er – im übertragenen Sinn – sich zum Gegenüber positioniert, kommuniziert und sich wieder auf sich besinnt.
So entstehen Geschichten. Sie beginnen mit etwas Kleinem und Unscheinbarem – auch eine von Natascha Brändlis Qualitäten und gleichzeitig einer ihrer Fäden in ihrem Werk- und Lebensteppich: Das Unscheinbare findet sie nicht selten in kaum beachteten, nicht desto weniger ungewöhnlichen Naturmodellen wie dem kleinen Häubchen der Pantoffelblume, dem sie die Form entlehnt hat. Es gibt da einen kleinen Schwung in der Mitte des Häubchens, wo sich zwei Linien treffen. Sie sind kaum wahrnehmbar und bilden doch ein Gemeinsames: eine Form, deren Einzigartigkeit Natascha Brändli in Farbe, Form und Größe hervorgehoben hat. Und obwohl sie diese Linien zu einem Plastikpaar umgesetzt hat, dominiert auch hier die mehrdeutige Linie als Thema, deren Mehrdeutigkeit sich erst aus der Veränderung der Position der Linien und damit der Position der Plastik selbst erschließt. Versuchen Sie zumindest im Kopf die beiden Formen zu verändern: Im Moment liegen sie übereinander. Doch was würde in ihrem Ausdruck passieren, wenn Sie sie zueinander hinlegen, oder voneinander weg? Oder mit den Spitzen oder den Bäuchen zusammen?
Sich der Wesenheiten und der Deutungsvielfalt im kleinen Unscheinbaren, dessen Linien und Windungen bis hin zu Schleifen und schließlich Knoten und deren Ansammlungen, bewusst zu werden und sich deren Bedeutungen für das große Ganze zu vergegenwärtigen, ist essentiell; auch um eigene Fäden zu verfolgen, Knoten zu entwinden und damit Ursprünge freizulegen. Und genau diese Fähigkeit ist es, die Natascha Brändli gekonnt versteht, in ihren Werken umzusetzen und sie auf diese Weise so außergewöhnlich macht – während wir das Glück haben, zuzusehen zu dürfen, wie man Unscheinbares sichtbar macht und ihm Bedeutung verleiht. Öffnet man die Knoten eines Teppichs, sind es am Ende einfach nur Fäden. Die Bedeutungen knüpfen wir hinein.